Arbeitsrecht: Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsentscheidung – BAG konkretisiert Anforderungen

RA Dr. Kühnemund, RAe Dr. Hantke & Partner

Lange Jahre, ja fast Jahrzehnte, trieb die Rechtsprechung die Arbeitgeber in Fällen der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zur Verzweiflung: Denn zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit genügte alleine die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, früher noch „der gelbe Schein“ genannt. Dieser AU-Bescheinigung kam ein erheblicher Beweiswert zu. Da reichte es nicht, dass der Arbeitgeber die Gehaltszahlung einstellte mit dem Argument, der Arbeitnehmer sei doch dafür bekannt, dass er gerne mal krank mache, das würde man ihm nicht glauben. Der Arbeitgeber musste schon sehr belastbare Fakten vortragen, um diesen Beweiswert zu erschüttern. Ich hatte einen solchen Fall mal vor einiger Zeit, der sogar einen humoristischen Einschlag hatte: Der Arbeitnehmer war angeblich wegen Bänderdehnung am rechten Sprunggelenk arbeitsunfähig. Der Arbeitgeber fand aber am Montag im Internet einen Spielbericht aus der lokalen Fußballliga. Und siehe da, der Arbeitnehmer war in der 31. Minute eingewechselt worden und hatte 2 Tore geschossen. Da war der Beweiswert erschüttert. In einem anderen Fall hatte das nicht funktioniert, da war der Arbeitnehmer wegen Depressionen krank geschrieben und der behandelnde Arzt hatte ihm ausdrücklich bestätigt, dass Fußball zu spielen seiner Genesung förderlich sei.

Nun gibt es aber immer wieder auch Fälle, in denen die „Daten“ einfach auffällig sind: Arbeitnehmer überreicht am 2. Februar seine Kündigung zum 28. Februar und gleichzeitig seine AU-Bescheinigung bis zum 28. Februar. Oder er wird z.B. am 3. März gekündigt zum 30. April, meldet sich dann am 4. März krank und reicht dann Folgebescheinigungen bis zum 30.4. ein. Und, wen wundert es, am 2.5. fängt er bei einem neuen Arbeitgeber an, kerngesund, wie es scheint.

Hier hat sich in den letzten Jahren ein aus Arbeitgebersicht interessanter Wandel in der Rechtsprechung vollzogen. Ausgehend von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes gibt es zwischenzeitlich zahlreiche Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte zu der Frage, wann denn eigentlich der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert sein kann. In diesen Reigen der Entscheidungen passt eine aktuelle Entscheidung des BAG vom 13.12.2023 (5 AZR 137/23), die bisher erst als Pressemeldung vorliegt.

Dort hatte es sich tatsächlich zu zugetragen, dass der Arbeitnehmer sich arbeitsunfähig gemeldet hatte und dann seine Kündigung bekam. Erst einmal also nichts auffälliges. Dann aber reichte er zwei Anschlussbescheinigungen ein, die ihm eine Arbeitsunfähigkeit exakt bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses attestierten, während der am darauffolgenden Tag bei einem neuen Arbeitgeber anfing. Eine Wunderheilung sozusagen, oder zumindest eine auffällige Koinzidenz. Das sah auch das BAG so, in der Pressemeldung heißt es dazu:

„Ein Arbeitnehmer kann die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nachweisen. Diese sind das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Deren Beweiswert kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben. Hiervon ausgehend ist das Landesarbeitsgericht bei der Prüfung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die während einer laufenden Kündigungsfrist ausgestellt werden, zutreffend davon ausgegangen, dass für die Erschütterung des Beweiswerts dieser Bescheinigungen nicht entscheidend ist, ob es sich um eine Kündigung des Arbeitnehmers oder eine Kündigung des Arbeitgebers handelt und ob für den Beweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden. Stets erforderlich ist allerdings eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände. Hiernach hat das Berufungsgericht richtig erkannt, dass für die Bescheinigung vom 2. Mai 2022 der Beweiswert nicht erschüttert ist. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung ist nicht gegeben. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses, etwa durch eine Anhörung des Betriebsrats. Weitere Umstände hat die Beklagte nicht dargelegt.

Bezüglich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 ist der Beweiswert dagegen erschüttert. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestand und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat. Dies hat zur Folge, dass nunmehr der Kläger für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trägt. Da das Landesarbeitsgericht – aus seiner Sicht konsequent – hierzu keine Feststellungen getroffen hat, war die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

Ist also in einer solchen Konstellation der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert, muss der Arbeitnehmer umfänglich darlegen und beweisen, dass er in dieser Zeit tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war. Wie macht er das: Er benennt seinen behandelnden Arzt als Zeugen; das Gericht lädt den Arzt vor und hört ihn an – wenn der Arzt denn tatsächlich erscheint. Ein Arbeitsrichter sagte vor einigen Monaten mal in einem Vortrag, es sei ihm noch nie gelungen, einen Arzt zum Erscheinen als Zeuge zu bewegen, auch nicht unter Androhung von Zwangsgeldern.

Was ist Arbeitgebern zu empfehlen: Wenn Sie das Gefühl haben, dass eine AU-Bescheinigung „zum Himmel stinkt“, rufen Sie uns an.

Was ist Arbeitnehmern zu empfehlen: Das Risiko, mit einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit „auf die Nase zu fallen“, ist gestiegen. Lassen Sie es lieber sein.

 

 

zurück

Veröffentlicht in Aktuelles und verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , .