Erbrecht: Wahl ausländischen Erbrechts und Ordre public Vorbehalt (BGH, Urteil vom 29.06.2022)

RAin Krystyna Schurwanz, RAe Dr. Hantke & Partner

Die Anwendung des gem. Art. 22 Abs. 1 EuErbVO gewählten englischen Erbrechts verstößt jedenfalls dann gegen den deutschen ordre public im Sinne von Art. 35 EuErbVO, wenn sie dazu führt, dass bei einem Sachverhalt mit hinreichend starkem Inlandsbezug kein bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch eines Kindes besteht.

Der BGH hat mit Urteil vom 29.06.2022 (Az. IV ZR 110/21) zu dem ordre-public-Vorbehalt des Art. 35 EuErbVO Stellung genommen. Seit dem 17.08.2012 gilt die Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO). Nach Art. 22 Abs. EuErbVO kann eine Person für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen, dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört. Eine Person, die mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt, kann das Recht eines der Staaten wählen, denen sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes an-gehört. Als Ordre public wird verstanden der Rechtsgrundsatz, dass das Recht eines fremden Staates nicht anzuwenden ist, wenn dies zu einem Resultat führt, welches gegen grundlegende Rechtsprinzipien des eigenen Rechts verstößt.

Sachverhalt

In dem des Urteils des BGH zugrunde liegenden Rechtsstreit klagte der Adoptivsohn eines im Jahr 1936 geborenen und im April 2018 verstorbenen britischen Staatsangehörigen. Der Erblasser hatte im Jahre 1975 hatte den am 09.09.1974 geborenen Kläger mit notariellen Kindes-annahmevertrag adoptiert. Der Annahmevertrag enthielt einen ausdrücklichen Ausschluss der Erb- und Pflichtteilsrechte des adoptierten Kindes. Der Erblasser lebte seit seinem 29. Lebens-jahr unter Beibehaltung der britischen Staatsangehörigkeit bis zu seinem Tod in Deutschland. Der Erblasser setze mit Testament vom 13.03.2015 die Beklagte zu seiner Alleinerbin ein und wählte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht als Teilrecht seines Heimatsstaates. Zum Nachlass gehören unter anderem eine in Deutschland befindliche Immobilie sowie diverse weitere Nachlassgegenstände. Der Kläger selbst besitzt ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit und hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Der Kläger klagte auf Auskunft und Wertermittlung nach § 2314 BGB, da dieser als Adoptivsohn pflichtteilsberechtigt war und von der Erbfolge ausgeschlossen war.

Das OLG hat der Berufung des Klägers stattgegeben und die Beklagte zur Auskunft über den Bestand des Nachlasses durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses unter Angabe aller beim Erbfall vorhandenen Sachen und Forderungen des Erblassers sowie aller gegen den Nachlass gerichteten Gläubigerforderungen, die Angabe größerer Schenkungen der letzten 10 Jahre vor dem Eintritt des Erbfalls sowie zur Ermittlung der Werte einzelner Nachlassgegenstände durch Sachverständigengutachten verurteilt. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Entscheidung

Der BGH hat bestätigt, dass dem Kläger ein Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch zusteht. Der Erblasser hatte gemäß Art. 22 Abs. 1 der EuErbVO 650/2012 das Recht, für die Regelung der Erbfolge das englische Recht als Recht des Staates zu wählen, dem er im Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte. Die Wahl englischen Rechts war auch wirksam.

Allerdings hat der BGH die Anwendung englischen Rechts in dem dortigen Fall mit dem deutschen ordre public als offensichtlich unvereinbar (Art. 35 EuErbVO) erklärt. Das englische Recht stehe zu der nach deutschen Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung in dem dortigen Fall untragbar sei. Nach Art. 35 EuErbVO ist die Anwendung einer Vorschrift des nach der Verordnung bezeichneten Rechts eines Staates darf nur versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist. Gemäß Art. 35 EuErbVO dürfe der Gerichtsstaat die Anwendung des in zulässiger Weise gewählten Rechts eines anderen EU Staates nur versagen, wenn die anzuwendende rechtliche Bestimmung wesentlichen Grundsätzen und Werten des eigenen materiellen Rechts im Einzelfall konträr entgegensteht und die Anwendung des ausländischen Rechts nach inländischen Gerechtigkeitsvorstellungen schlichtweg untragbar erscheint (BGH, Beschluss v. 14.9.2018, XII ZB 292/15). Dies sei nach der Bewertung des Senats vorliegend der Fall.

Das Pflichtteilsrecht sei als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Hingegen sehe das englische Recht für Kinder keine unentziehbare, bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung am Nachlass vor. Das BVerfG habe in einer Grundsatzentscheidung bereits im Jahr 2005 klargestellt, dass das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers aufgrund der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG und dem daraus abzuleitenden Grundsatz der Familiensolidarität zu den unabdingbaren Grundsätzen des deutschen Erbrechts gehört (BVerfG, Beschluss v. 19.4.2005, 1 BvR 1644/00). Nach deutschen Wertvorstellungen sei das Verhältnis zwischen Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft von gegenseitiger persönlicher und materieller Verantwortlichkeit geprägt. Daraus folge die verfassungsrechtliche Institutsgarantie des Pflichtteils-rechts, die der Testierfreiheit des Erblassers Grenzen setze.

Auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 35 EuErbVO ergebe sich nichts Gegenteiliges. Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag habe noch eine Regelung vorgesehen, wonach ab-weichende Regelungen von Pflichtteilsansprüchen nicht per se als Verstoß gegen den „ordre public“ qualifiziert werden dürften. Der Wegfall der Bestimmung in der endgültigen Fassung spreche dafür, dass unterschiedliche Pflichtteilsregelungen unter engen Voraussetzungen die Berufung auf den ordre public rechtfertigen können.

BGH Urteil vom 29.06.2022 Az. IV ZR 110/21 (OLG Köln Urt. v. 22.04.2021 Az. 24 U 77/20; LG Köln Urt. v. 10.07.2020 Az. 20 O 246/19)

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